HISTORISCHES
Eine Theatervorführung
(aus: Vier Genrebilder, Bilderbogen Nr. 78, Winckelmann &
Söhne, Berlin um 1860 | Quelle: Historisches Museum Frankfurt/Main)
Kleines Theater ganz groß
Mit seinen Bühnenmaßen von rund 30 x 40 cm entspricht es schon lange nicht einmal mehr den gängigen Maßen eines Fernsehers. Es bietet keine 3D-Animation, keine special effects. Dennoch sitzen Stepkes von 7 und 10 Jahren offenen Mundes davor, fiebern mit und möchten am liebsten in die Handlung eingreifen. Es sitzen Zuschauer mit licht-ergrautem Haar dichtgedrängt und sind fasziniert vom abgründigen Agieren eines Verbrecherfieslings, oder alle zusammen lauschen Humperdincks „Hänsel und Gretel“. - Was hat das Papiertheater an sich, dass es noch immer so in seinen Bann zieht? Zumal es hierzulande noch vor wenigen Jahren fast vergessen schien. Und das, obwohl Deutschland neben England und Dänemark Wiege dieses einst ausgesprochen weitverbreiteten Unterhaltungsmediums war?
Bezeichnungen wie hierzulande „Kindertheater“, in England „Juvenile
Drama“ oder „Toy Theatre“, in Dänemark „Dukketeatret“ oder in Spanien
„Teatro de los Niños“ führen ein wenig in die Irre. Zunächst verband
sich keine pädagogische Ambition mit dem Papiertheater, vielmehr die
ganz erwachsene Sucht nach Bildern und nach Theatersouvenirs. Was man
im großen Theater gesehen hatte, spielte man auf der kleinen Bühne in
den heimischen vier Wänden nach.
So glänzten die halbwüchsigen Sprösslinge der gutbürgerlichen
Familie mit Dramen von Schiller, Goethe, Shakespeare, mit
Opernbearbeitungen von Weber, Mozart oder Spontini und Wagner, nicht
selten von der Tochter des Hauses am Klavier begleitet. Oder es
entwickelte der Familienvater hervorstechenden Ehrgeiz, das Unheimliche
einer Gespensternacht durch Geräusche, Licht- und pyrotechnische
Effekte noch zu vergrößern. - Es ist glaubhaft versichert, dass so
manches papierene Theater dabei in Flammen aufging; schließlich wurde
dereinst die gesamte Beleuchtung mit Kerzen und Öllämpchen realisiert.
Papiertheater, das Fernsehen unserer Ur(Ur)großeltern. Die Wiederholbarkeit des Theatererlebnisses für die ganze Familie war Grundlage für eine Entwicklung, die die „Massenmedien“ des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts mit sicherem Geschäftssinn forcierten. Zwischen Theaterbegeisterung und Rückzug in die eigene Stube holte sich das Bürgertum ein schillerndes, exotisches, faszinierendes Abbild in die eigenen vier Wände. Die Nachfrage nach den Theater-Ausschneidebogen wuchs enorm.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Papiertheater zum pädagogischen Medium, wurden spezielle Stücke geschrieben und Bearbeitungen bekannter Stoffe für Kinder vorgenommen, die man gemeinsam mit den passenden Kulissen und Figuren zum Kauf anbot.
Heute ist es eine Kunstform, die nicht nur auf dem traditionellen Repertoire fußt. Neue Stücke, moderne Ausstattungen und ausgeklügelte technische Finessen lassen das alte Papiertheater in gänzlich neuem Licht erscheinen, was nicht zuletzt alljährlich im September beim Internationalen Papiertheatertreffen in Preetz zu erleben möglich ist.
Der Weg zum eigenen Theater war und ist denkbar einfach: Auf Papierbögen gedruckte, kolorierte oder selbst zu kolorierende Figuren und Kulissen bis hin zu zum eigentlichen Theater mit Proszenium und Vorhang werden ausgeschnitten, auf Pappe geklebt und zur kleinen, bespielbaren Bühne zusammengebaut. Texthefte und Spielanleitungen gab und gibt es entsprechend dazu.
Und wer weiß – so manch großer Künstler unserer Tage hat seine Künstlerkarriere als „Papiertheater-Intendant“ begonnen: Der junge Friedrich Schiller soll ebenso begeistert mit Papierfiguren gespielt haben wie es Thomas Mann tat. Sänger-Legende Dietrich Fischer-Dieskau und Shakespeare-Regisseur Peter Brook berichteten, dass ihre Theaterleidenschaft vor und auf einer dieser Miniaturbühnen geweckt wurde.
Freilich ist das Papiertheater heute kein Massenmedium mehr, dennoch ist es ein sehr lebendiges Spiel und findet seine Fans in allen theaterbegeisterten Generationen.
Hervorragend recherchierte und ausführliche Informationen und weiterführende Texte finden Sie auf der Website des Papiertheater Invisius (Berlin). → www.invisius.de